Freitag, 24. Juni 2011

Heftausschnitt: Interview mit Marc ("Boys-SB")

Das nachfolgende Interview mit Marc von den Boys SB erschien in der achten Ausgabe des Leuchtturms, die am 7. Mai 2011 auf den Fanzine-Markt kam.

Carsten:
Hallo Marc, bei zahlreichen Fanclub-Neugründungen, die keine zwei Jahre überleben, wirken fünf Jahre Virage Est (VE) und (nächstes Jahr) zehn Jahre Boys-SB schon wie eine halbe Ewigkeit. Wie wurde das möglich?

Marc:
Salut Carsten. Nun ja, als erstes sollte man Virage Est und auch Boys von einem gewöhnlichen Fanclub abheben. Virage Est ist für uns ja, wie die meisten Leser wohl wissen, nur die Bezeichnung für den E2 Block und französisch für „Ostkurve“. Es gibt keine Mitgliederstrukturen, wir verwenden lediglich einen eigenen Namen für die Kurve, welcher sich mitunter im allgemeinen Sprachgebrauch eines jeden FCS Fans eingebürgert hat. So steht ja bspw. auch auf der Eintrittskarte mittlerweile Virage Est.

Boys, als die wohl wichtigste Ultrasgruppe in Saarbrücken, hat mit Fanclub im traditionellen Sinne ebenfalls nicht allzu viel zu tun. Bei uns kann nicht jeder ohne weiteres Mitglied werden, fällt uns jemand in unserem Umfeld als besonders aktiv und passend für unsere Gruppe auf, so wird die Person in die „Youth Crew“, unsere Nachwuchsgruppe, aufgenommen, engagiert sie sich dort über einen längeren Zeitraum, durchaus auch über mehrere Jahre besonders, so kommt sie erst in die Hauptgruppe. Diese definiert sich neben Freundschaft in erster Linie über Aktivität, was wohl auch die Antwort auf Deine Frage ist.

Carsten:
Was waren für Dich persönlich Tief- und Höhepunkte in den letzten fünf Jahren?

Marc:
In sportlicher Hinsicht ist diese Frage natürlich leicht beantwortet. Traurig waren die beiden Abstiege in Folge und das Nicht-Erreichen der neuen dreigleisigen Regionalliga. Der bitterste Moment davon war für mich persönlich der Abstieg aus der Regionalliga Süd. Einerseits waren wir eigentlich schon durch, alle Spiele mussten gegen uns enden und mit einem Punkt in Stuttgart gegen die 2. Auswahl des VfB wäre man durch gewesen. Andererseits entging man der Möglichkeit sich im Folgejahr für die neue 3. Liga zu qualifizieren. Nach großer Polizeischikane erreicht unser Bus erst kurz vor der Halbzeit beim Stande von 2:0 das Stadion, man fühlte sich machtlos, was den Moment natürlich weiter verschlimmerte.

Höhepunkte waren dann die beiden sofortigen Wiederaufstiege, besonders hervorzuheben die souveräne letzte Saison, die schon Wochen vor Saisonende entschieden war und uns in Liga 3 führte, was meiner Meinung nach, was die Gegner angeht, die aktuell wohl interessanteste Liga des Landes ist.
Vom sportlichen abgesehen, haben wir als Gruppe in den letzten Jahren einige Erfolge zu verzeichnen. Wir haben es Stück für Stück geschafft, eine Kurve, die unserer Idealvorstellung sehr nahe kommt, aufzubauen.
Sicherlich gab es auch schwere Zeiten, in den sportlich schlechten Momenten liefen nicht nur dem FC als Ganzes, sondern auch unserer Kurve die Leute weg. In Zeiten des Boykotts stand man zeitweise mit kaum mehr als 50-60 Leuten in der Virage Est. Aber auch hier haben wir es geschafft, gute Arbeit zu leisten, unser Umfeld über unsere Ideen aufzuklären, woraus auch weitere kleinere Gruppen entstanden, die Leute somit greifbarer sind und wir mittlerweile einen festen Kurvenstamm, auch außerhalb der Boys haben.

Carsten:
Seit einigen Jahren ist die Virage Est selbstverwaltet. Wie sieht Euer Ideal einer "Kurve in Eigenregie" aus und was müsst Ihr dafür tun?

Marc:
Eine freie, selbstverwaltete Kurve ist das wohl höchste Ziel einer jeden Ultrasgruppe. Keine Ordner im Block, keine Polizei im Block, einen eigenen Stand, an dem die Gruppe entscheidet, was sie verkauft, über den die meisten Aktionen finanziert werden, Verteilen von Flyern/Kurvenblättern, deren Inhalt nicht erst überprüft wird. Hätten wir ein eingeschränktes Kontingent würde ich die Verteilung der Eintrittskarten auch noch dazu zählen.

Einige dieser Bestrebungen (Flyer, Stand) waren direkt nach dem Blockwechsel 2005 erfolgreich. Orderfreiheit haben wir erst vor 3,5 Jahren erreicht, als wir in die Oberliga abgestiegen sind. Dabei hatten wir etwas Glück im Unglück. Der Verein wollte nach dem erneuten Abstieg die Virage Est schließen. Das wurde schnell unterbunden und in einem Gespräch einigte man sich darauf, dass der E Block weiterhin geöffnet bleibt, der Verein aber keine Kosten daran hat, sprich, der Eingang des F Blocks genutzt wird und keine Ordner und keine Reinigungskräfte im Block eingesetzt werden. Also haben wir in Eigenverantwortung für Sauberkeit und für „Ordnung“ gesorgt. Allgemein halte ich Selbstregulierung in jeder Hinsicht für die beste Lösung von Problemen. Unsere Regeln definieren wir selbst, sicherlich muss man sich an gewisse Grundsätze halten, gerade wenn sie zu Strafen für den Verein führen (Stichwort Pyrotechnik), anderseits kann man in gewissem Maße über andere sinnfreiere Grundsätze hinwegsehen. Ebenfalls ist wichtig, dass keiner, der gegen eine unserer Regeln verstößt, bei Verein oder Polizei denunziert wird, sondern wir das Problem im Gespräch durch Aufklärungsarbeit lösen. Letzteres passiert natürlich auch präventiv über die „Kurvenlage“, unser 4 bis 16 seitiges Infoheft, das zu jedem Heimspiel erscheint und kostenlos in unserer Kurve verteilt wird. Grundvorrausetzung für eine in Eigenregie verwaltete Kurve ist, dass das Wort der führenden Ultrasgruppe in der Kurve Gewicht hat, ansonsten endet ein solches Vorgehen im Chaos.

Carsten:
Das Verhältnis zwischen Verein und Virage Est hat durchaus Höhen und Tiefen erlebt. Wie empfindest Du derzeit den Kontakt zum Verein?

Marc:
Hier muss ich erst einmal auf deine Fragestellung eingehen. Wer ist „der Verein“? Ich denke mit Verein meinst du die Vereinsoffiziellen, Entscheidungsträger, Vorstand etc. Lt. unserer Definition geht das Wort „Verein“ viel weiter, denn die Fans und das gesamte Umfeld sind mindestens genauso „der Verein“.
Um nicht zu weit abzuschweifen aber eine Antwort auf deine Frage. Das Verhältnis zum Präsidium/Vorstand war noch nie das Beste, besonders unter der Ostermann-Führung, gab es viel Kritik unsererseits, was sich in großen Aktionen (Demo, Spruchbänder, Fahnen, Aufkleber/Plakataktionen) manifestierte.
Zu anderen Vereinsoffiziellen, ohne jetzt Namen nennen zu wollen, bestand eigentlich durchweg ein positives Verhältnis. Wir werden so ernst genommen, dass alle Maßnahmen die uns betreffen, im Vorfeld diskutiert werden, und von offizieller Seite das Gespräch mit uns gesucht wird. Genauso versuchen wir größere Umstrukturierungen im Vorfeld zu thematisieren. Ich denke hier findet schon seit Jahren ein gutes Miteinander statt, was sich nicht zuletzt daran fest macht, dass unsere Gruppe mittlerweile zwei der drei Fanbeauftragten stellt. Auch das Fanprojekt soll hier nicht unerwähnt bleiben, was über Jahre hinweg in guter Zusammenarbeit mit uns, nicht selten als Vermittler fungierte.

Carsten:
In Internetforen wird der VE oft vorgeworden, sich nur selbst darzustellen, lange, "einschläfernde" Lieder zu singen und zu wenig auf das Spielgeschehen einzugehen. Wie stehst Du zu solchen Vorwürfen?

Marc:
Ein leidiges Thema. Mit dem Vorwurf Selbstdarstellung muss wohl jede Ultrasgruppe, besonders im konservativen Deutschland, leben. Neben der Unterstützung der Mannschaft zum Erfolg des Vereins, gibt es auch andere Ziele. Beispielsweise will man als Kurve besser (wie auch immer jedes Individuum „besser“ definiert) sein, als die des Gegners. Das ist aber meines Erachtens kein Phänomen der Ultras, sondern existiert seit es Fanszenen gibt, Sätze wie „Die Gäste haben wir heute übertönt, die hat man nicht einmal gehört“ gibt es sicherlich schon länger als die ersten Ultrasgruppen hierzulande. Weiter ist es uns wichtig auf fanpolitische Themen einzugehen, Polizeiwillkür, Kommerzialisierung, Rassismus, um nur mal ein paar wenige zu nennen. Wer für seine Ziele und Ideale zu kämpfen selbstdarstellerisch nennt, sollte seinen Standpunkt überdenken.

„Lange, einschläfernde Lieder“ lautet deren Definition. „Melodische, rhythmische, textreiche, anspruchsvolle Lieder“ nennen wir es. Auch hier gibt es innerhalb der gesamten Ultraszene Diskussionen nach dem richtigen Weg. Und gerade hier denke ich gibt es keine allgemeingültige Lösung. Besonders muss man hier nach den Gegebenheiten unterscheiden. Wenn in Dortmund eine Gruppe von 200 oder selbst 500 Leuten auf einer 25.000 Menschen fassenden Tribüne in einem mit über 80.000 Zuschauern ausverkauften Stadion ihre noch so kreativen Lieder singen, wird das Ziel verfehlt. Unser Drang nach dieser Kreativität kam ja auch nicht aus dem Nichts. Wir standen in einer sportlich schweren Phase mit nicht einmal 100 Leuten da, von denen jeder bereit war, etwas mehr Energie und Anspruch in einen Gesang zu legen. So entstanden viele unserer Lieder, die Leute die dazu kamen, sind in unsere Kurve reingewachsen und kennen es gar nicht anders. Letztlich muss jede Gruppe entscheiden, ob sie den Weg der kurzen, prägnanten Schlachtrufe und der einfachen Gesänge geht, oder anspruchsvolleres Liedgut in ihr Repertoire packt, und jede Entscheidung ist zu respektieren. Für uns haben wir die Weichen schon vor Jahren gestellt und sind auf diesen Schienen weitergerollt. Abgesehen davon sind es die gleichen Leute die uns kritisieren, im nächsten Atemzug aber „Spürst Du unsern Wind im Rücken“ zu einem Gassenhauer werden lassen.
Zu wenig auf das Spielgeschehen eingehen ist auch ein ewiger Vorwurf. Hier kann ich die Kritik teilweise schon verstehen und empfinde sie sogar als angebracht. Aber nur teilweise. Wir sehen es eben nicht so, dass jeder Eckball eingeklatscht werden muss, und dafür ein Lied, dass über 10 Minuten hinweg leidenschaftlich gesungen wurde, unterbrochen wird. Es ist aber durchaus richtig, dass auf spielentscheidende Situationen zu wenig eingegangen wird. Daran arbeiten wir schon länger, die Vorgehensweise von Spielen gegen Gegner wie „Bad Breisig“, wo einen selbst ein Tumult auf dem Platz emotional kaum berührte, hängt eben einigen noch in den Knochen.

Carsten:
Wie siehst Du die aktuellen Entwicklungen im Fanblock und den Wechsel vieler, alteingesessener D-Block-Gänger in die Virage?

Marc:
Natürlich muss man in erster Linie die Entwicklung, die seit Ende 2010 stattfindet, als absolut positiv einstufen. Langfristig ist man mit der größeren Masse viel stimmgewaltiger, wir können eine größere Masse an unsere Ideen heranführen, was gerade bei vereinspolitischen Belangen von absolutem Vorteil ist. Andererseits stellt der Zuwachs aber auch eine Herausforderung dar. Für uns war vom ersten Moment klar, dass wir nicht weiter machen können wie zuvor, sondern gezielt den Dialog suchen müssen, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, um dafür zu sorgen, dass wir nicht zu einem 0815 Bundesliga Block oder einem D-Block an anderer Stelle werden. Von großem Vorteil war es dabei, dass wir keinen aufgefordert haben zu uns in die Virage Est zu kommen, sondern diese Entscheidung von den betreffenden Personen selbst getroffen wurde. Mit dieser Entscheidung hat auch jeder unsere Arbeit, die in der Kurve wie sie heute existiert, als Grundlage für die Zukunft respektiert und akzeptiert.
Zurückblickend haben wir nicht mehr als einen ersten Schritt getan, mit dem Ergebnis aus dem ersten halben Jahr sind wir nicht vollends zufrieden, was wir aber auch zu großen Teilen uns selbst zuschreiben. In der Zukunft müssen wir noch mehr Gespräche suchen, Aufklärungsarbeit leisten und gezielter auf einzelne Personen(gruppen) eingehen, um eine bessere Einheit zu bilden.

Carsten:
Was würde ein möglicher Stadionneubau in Saarbrücken für die VE bedeuten?

Marc:
Eine Frage, die sich aus fehlendes Informationen jeglicher Natur nicht beantworten lässt. Ziel wird es auf jeden Fall sein, einen gemeinsamen Standort, idealerweise unter gleichem Namen für die aktuell in der Virage Est ansässigen Gruppen und ihr Umfeld, zu finden. Da keine Pläne für ein Stadion vorliegen und der Bau eines solchen meines Erachtens, auch wenn es da von offizieller Seite immer andere Aussagen gibt, in weiter Ferne liegt, kann ich die Antwort aber nicht weiter präzisieren.

Carsten:
Zum Thema Fanfreundschaften: Die Freundschaft zwischen Nancy und Saarbrücken kennt wohl jedes Kind, inzwischen sind auch Gäste aus Düsseldorf keine Unbekannten mehr in der VE. Wie leben Boys-SB und Virage Est diese Fanfreunschaften aus?

Marc:
Die Freundschaft nach Nancy ist dieses Jahr schon 12 Jahre alt und ursprünglich vom SC95 geprägt. Während sie sich anfangs auf kleinere Personenkreise beschränkte, ist sie mittlerweile von Großteilen beider Fanszenen getragen oder zumindest akzeptiert. Auch Boys und andere Gruppen der Virage Est tragen diese Freundschaft, die teilweise über gegenseitige Spielbesuche hinausgeht.
Ein paar Leute aus dem Umfeld der beiden Szenen haben im Rahmen der gegenseitigen Spielbesuche zwar durchaus auch ihre eigenen Kontakte geknüpft, aber im Großen und Ganzen geht die Freundschaft nach Düsseldorf nur von Boys und Ultras Düsseldorf aus. Ziel ist es auch, diese Beziehung innerhalb der Gruppen zu halten und keine Fanfreundschaft im traditionellen Sinne aufzubauen.
Insgesamt kann man sagen, dass Nancy von mehr Leuten getragen wird, von vielen aber nur oberflächlich, sprich ohne direkten persönlichen Kontakt, während Düsseldorf von weniger Leuten, dafür in Einzelfall aber intensiver gelebt wird.

Carsten:
Nach den Vorfällen von Jena war in der Presse vieles zu lesen, was sich hinterher als falsch herausstellte. Wie ist das Verhältnis der VE zur Presse?

Marc:
Auch wenn ich nicht gern pauschalisiere, es wird einfach zu oft einseitig berichtet, unabhängig wie die Plattform heißen mag. Wenn eine Gruppe oder Szene einmal im Fokus ist, wird ihre Meinung gar nicht mehr gehört, sondern immer wieder in dieselbe Kerbe geschlagen. Oftmals werden gar Meinungsbilder von Gruppe X von Verein A auf Gruppe Y von Verein B oder gar die ganze Ultraszene projiziert.
Die Antwort der Szene ist oftmals das Ignorieren der Presse, richtiger wäre es sicherlich selbst Kontakt zu bestimmten Zeitungen bzw. Redakteuren aufzubauen, die Presse auch als Organ zu nutzen, um Öffentlichkeitsarbeit zu machen. So würden die eigenen Standpunkte im Zweifelsfall auch eher gehört werden, als wenn man sich der Presse ständig verschließt. Da hinken wir in Saarbrücken anderen Szenen durchaus hinterher, auch wenn man die Medien, besonders im Fall mit der Ordnerwillkür 2005 gegen Rostock, durchaus sinnvoll nutzen konnte und auf unsere Seite bringen konnte.

Carsten:
Hat die Saison gebracht, was Du Dir von Ihr erhofft hast?

Marc:
Nun, unterm Strich war es eine aufregende Saison. Zwei Spieltage vor Ende auf Platz 7 zu stehen, damit hätte wohl keiner vor der Saison oder vor allem in der Winterpause gerechnet. Daher kann ich sagen, dass die Saison in sportlicher Hinsicht mehr gebracht hat, als ich mir erwartet hätte. Auf den Rängen konnten wir uns mit einigen interessanten Gegnern messen und präsentierten uns dabei oftmals sehr gut. Von einigen mageren Auftritten abgesehen, wurden auch hier meine Erwartungen absolut erfüllt. Die Entwicklung unserer Kurve nahm, ich will mal sagen, einen anders als erwarteten Lauf, dazu habe ich ja in einer anderen Frage schon mehr gesagt. Was mir etwas gefehlt hat war ein Derby, Spiele gegen Koblenz oder Offenbach haben einen solchen Titel nicht verdient und Gegner in räumlicher Nähe mit einer gewissen Brisanz waren in Liga 3 Mangelware. Aber vielleicht beschert uns der Fussballgott ja nächstes Jahr ein Spiel gegen den KSC, das ginge wenigstens ein Stück weit in diese Richtung.

Carsten:
Vielen Dank für das Gespräch, Marc!

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