Dienstag, 11. November 2008

Traditionsverein? Ein Definitionsversuch

In unregelmäßigen Abständen werden wir in diesem Blog Artikel veröffentlichen, die schon in aktuellen Leuchtturm-Ausgaben erschienen sind. Einerseits hat man damit per Kommentarfunktion die Chance, den entsprechenden Artikel direkt mit eigenen Bemerkungen/Anregungen/Fragen zu versehen, andererseits bekommen auch all diejenigen eine Chance einen Einblick in die Arbeit der Leuchtturm-Redaktion zu erhalten, die das Heft verpasst haben. Den Anfang macht der Versuch Jochens, den Traditionsverein zu definieren.

von Jochen Klein

Beim müden Null zu Null gegen die SV Elversberg 2 war es kurz vor dem Anstoß auf der Anzeigentafel im Ludwigspark zu lesen: 1. FC Saarbrücken - Mehr als 100 Jahre Tradition. Oft taucht in Diskussionen über die momentane Oberligazugehörigkeit des Vereins das Argument auf, dass ein Traditionsverein wie der FCS nun mal einfach nicht in die Oberliga gehöre. Aber was ist das eigentlich, ein Traditionsverein, wie definiert man im Fußball den Begriff „Tradition“? Und wieso ist der 1. FC Saarbrücken ein Traditionsverein?

Die Problematik bei der Suche nach einer geeigneten Definition für den Terminus „Traditionsverein“ ergibt sich vor allem aus der Suche nach einer vernünftigen Erklärung des Wortes „Tradition“ in „Traditionsverein“, wohingegen ein „Verein“ in den Gesetzbüchern der Bundesrepublik klar definiert ist als „Ein auf Dauer angelegter Zusammenschluss von natürlichen oder juristischen Personen, der einen gemeinsamen Namen trägt, sich von hierzu bestimmten Mitgliedern vertreten lassen kann und in dem jeder im Rahmen der Satzung nach freien Stücken ein- und austreten kann“. Dies und vieles Weitere dazu lässt sich im BGB in den Paragraphen 21-79 lesen, aber wie steht es mit einer Traditionsdefinition?

Eigenschaften von "Tradition"

Ein wichtiges Merkmal von Tradition ist unbestritten Zeit. Eine Tradition kann nur über einen bestimmten Zeitraum entstehen, weshalb eine zum ersten Mal ausgeführte Handlung von Natur aus keine Tradition darstellen kann. Betrachten wir uns den 1. FC Saarbrücken, so finden wir als Gründungsdatum den 18. April 1903 - die Geschichte des Vereins ist also schon mehr als einhundert Jahre alt. Wenn wir nun sagen, ein Traditionsverein ist ein Verein, der auf eine lange Geschichte zurückblicken kann, dann können wir ruhigen Gewissens behaupten, der 1. FC Saarbrücken sei ein Traditionsverein.
Aber das würfe wiederum Fragen auf, denn „eine lange Geschichte“ ist ein sehr schwammiger Begriff: Wie lange muss die Geschichte eines Vereins sein, um als Traditionsverein anerkannt zu werden? Fünfzig Jahre? Hundert Jahre? Oder gibt es das Traditionsetikett schon nach, sagen wir , dreißig Jahren? Und selbst wenn wir das Mindestalter eines Vereins willkürlich auf Einhundert setzen, werden dann die TSG Hoffenheim (als Turnverein seit 1899 existent) oder der Werksclub Bayer Leverkusen (gegründet 1904) automatisch auch zu Traditionsvereinen?

Das Element „Zeit“ kann also nicht der einzige Bestandteil einer möglichen Definition sein, zumal dann in Deutschland unter Berücksichtigung der zahlreichen Dorfvereine mehrere tausend Traditionsvereine existierten, was einen doch sehr weiten Traditionsbegriff prägen würde.
Das genaue Gegenteil wäre ein absolut enger Traditionsbegriff, der nur jene Vereine, die sich als Gründungsmitglieder der Bundesliga 1963 hervorgetan haben, in Betracht zieht. Demnach sind unsere im Ludwigspark in blau-schwarz auflaufenden Spieler Spieler eines Traditionsvereins, Luca Tonis rot-weißes Trikot wäre allerdings genauso wenig ein Trikot eines Traditionsvereins wie die Trikots der Spieler von Borussia Mönchengladbach, Fortuna Düsseldorf, Hannover 96, Waldhof Mannheim oder z.B. sämtlicher Ostvereine. Schon allein deshalb ist auch dieser Traditionsdefinitionsversuch abzulehnen.

Titel als Merkmale eines Traditionsvereins?

Im ersten Fall erhielten wir eine geradezu inflationär große Anzahl an Traditionsvereinen, im zweiten Versuch waren es definitiv zu wenige. Ein Vorschlag zur Kategorisierung von Vereinen in solche mit und ohne Tradition kommt aus den Weiten des World Wide Web. Demnach ist ein Traditionsverein ein Verein, der in seiner Geschichte Erfolge in Form von Titeln vorweisen kann, die einem überregionalen Publikum bekannt sind. Auf Deutschland bezogen wären das zunächst einmal die Titel „Deutscher Meister“ und „DFB-Pokal-Sieger“ sowie sämtliche internationalen Titel vom Uefa-Cup, über den Cup der Pokalsieger, die Champions-League und den Weltpokal. Wenn dann noch als Einschränkung hinzukommt, dass Vereine, die aus Unternehmen entsprungen sind, auch bei Vorweisen der oben genannten Titel aufgrund ihres Ursprungs nicht als Traditionsvereine gezählt werden können, befindet man sich scheinbar auf der sicheren Seite. Für Bayer Leverkusen, LR Ahlen und Wacker Burghausen wäre der Titel „Traditionsverein“ ausgeschlossen.

Doch auch hier lassen die ersten Probleme nicht lange auf sich warten: Ist der LR Ahlen - der jetzt Rot-Weiß Ahlen heißt und mit „LR international“ gar nichts mehr zu tun hat - nun immer noch ausgeschlossen, und wie verhält es sich mit Ex- Bayer, jetzt KFC Uerdingen? Und wird der VFL Wehen ein Traditionsverein, wenn er nächste Saison den DFB-Pokal gewinnt?
Der FCS , nie Meister oder Pokalsieger, wäre in diesem Fall aus der Liste der Traditionsvereine im Übrigen ausgeschieden. Wenn man Erfolg nicht an der Anzahl der erreichten Titel, sondern an der Anzahl der Siege gegen einen von der Allgemeinheit als Traditionsverein anerkannten Club mäße, fänden sich zwar auch die Saarbrücker wieder im Kreis der Auserwählten. Der Kreis würde sich aber wieder einmal zu weit ausdehnen.
Es ist also gar nicht so einfach, eine allgemein gültige Definition für einen so oft verwendeten Begriff zu finden. Ein Traditionsverein lässt sich, wie soeben dargelegt, nicht nur an blanken Zahlen und Daten fest machen. Es ist nicht die Anzahl der gewonnenen Titel oder die Anzahl der eingetragenen Mitglieder, oder das Alter des Stadions, die einen Traditionsverein ausmachen. Nein, Traditionsvereine sind aus einem ganz speziellen Stoff gemacht.

Tradition in Bezug auf Fußball

Schlägt man den Begriff „Tradition“ in der Wikipedia nach, so findet man dort Tradition als „Weitergabe von Handlungsmustern, Überzeugungen und Glaubensvorstellungen“, die „innerhalb einer Gruppe oder zwischen Generationen geschieht und mündlich oder schriftlich erfolgen kann“. Das Nachschlagewerk „wissen.de“ bezeichnet Tradition als „Überlieferung von kulturellen Formen und Inhalten über eine bestimmte Zeit hinweg.“
Bei beiden Definitionen wird man sich nun zu allererst einmal fragen, wie man diese nun auf einen Fußballverein übertragen soll. Wir finden auch hier den Faktor Zeit. Zeit spielt also eine gewisse, wenn auch - wie wir bereits festgestellt haben - nicht die einzig entscheidende Rolle. Eine Wiedergabe von Überzeugungen und Handlungsmustern findet auch bei Vereinen statt, zumindest bei solchen, die sich zu recht mit dem Prädikat „Tradition“ schmücken. Denn Traditionsvereine zeichnen sich durch eine über Jahrzehnte gewachsene Fanszene aus. Durch Fans, die von sich behaupten können, sie hätten schon vor x (hier bitte mindestens zweistellige Zahl einsetzen) Jahren ihrem Verein beigestanden. Im Umfeld von Traditionsvereinen findet man Menschen, die Geschichten erzählen können: Vom Jetzt, vom Damals und vor der Zeit vor dem Damals. Man findet Kinder, die neben ihrem Vater, der damals neben seinem Vater im Stadion stand, stehen. Ein Traditionsverein wird immer Fans haben, egal in welche Fußballniederungen er abrutscht. Man erkennt ihn daran, dass trotz jahrelanger Misere noch immer Hunderte, wenn nicht Tausende, zu den Spielen pilgern. In den vielen Jahren seiner Existenz hat der Verein Spieler und Persönlichkeiten hervorgebracht, die den Menschen im Gedächtnis geblieben sind, an die man sich im besten Fall auch überregional erinnert. Man bringt mit einem Traditionsverein bestimmte Ereignisse in verschiedenen Dekaden seiner Existenz in Verbindung: Erstligajahre, Ab- und Aufstiege, Skandale, bestimmte Spiele. 
Traditionsvereine bringen sich gegenseitig ein gewisses Maß an Achtung entgegen. Tradition ist, wenn in der Oberliga 10.000 Menschen zu einem Spiel zweier Mannschaften kommen, weil mit der Tradition beider Mannschaften auch eine traditionelle Rivalität gewachsen ist. 

Tradition heißt Kultur

Müsste ich „Traditionsverein“ definieren, so würde meine Definition lauten:
Ein Traditionsverein ist ein unabhängig von einem bestimmten Unternehmen gewachsener Verein, der eine über mehrere Generationen weitervererbte Geschichte vorweisen kann, mit der man bedeutende Spieler und Ereignisse in Verbindung bringt, und der über eine über Jahrzehnte bestehende Fankultur verfügt, die in der Regel mit der Zeit entstandene Rivalitäten zu anderen Traditionsvereinen mit sich bringt.
Auch diese Definition erhebt nicht den Anspruch unanfechtbarer, universeller Gültigkeit. Es ist nur ein Versuch, der, wie ich hoffe, halbwegs gelungen ist.

Natürlich ist auch der Dorfverein, der seit 100 Jahren existiert und eine Rivalität zum Nachbardorf hegt, in gewisser Weise ein Traditionsverein. Hier würde ich aber eher den Begriff von lokaler bzw. regionaler Tradition verwenden und deshalb von einem lokalen oder regionalen Traditionsverein in Unterscheidung zu einem soeben definierten Traditionsverein sprechen.

Zum Abschluss bleibt die Frage, ob sich Tradition verlieren oder, aktueller denn je, tatsächlich verkaufen lässt.

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